Der Jugendtreff Ingersheim ist das erste von vier Reallaboren des Forschungsprojekts Stuttgart 210 (www.stuttgart210.de), das die Weiterverwendung der Schalungselemente des Stuttgarter Hauptbahnhofs (Stuttgart 21) untersucht. Die Gemeinde Ingersheim am Neckar nahe Stuttgart hatte sich 2023 auf die Umsetzung eines Entwurfs beworben, der aus zwei geometrisch besonders komplexen Schalungselementen bestand. Leider gingen diese beiden Teile jedoch auf der Baustelle des Stuttgarter Hauptbahnhofs verloren. Die Suche nach einem Alternativentwurf griff daher auf Elemente zurück, die zunächst als ungeeignet eingeschätzt worden waren: Die sehr großen und aufwändig zu transportierenden Schalungen der Fußgängertunnels am südlichen Ende des Bahnhofs. Aus diesen Elementen liess sich zwar ein besonders skulpturaler Innenraum formen, eine geometrisch sinnvolle Gebäudehülle liess die Geometrie der Elemente allerdings nicht erzeugen. Daher sieht der Entwurf eine Gebäudehülle aus KVH, Brettschalungen und Dreischichtplatten vor, die auf die Schalungselementen aufgesetzt ist und nach außen eine autonome, elliptische Form bildet. Dadurch konnten einerseits geometrisch relativ einfach Dachund Fassadenflächen hergestellt werden, die die Schalungselemente vor Witterung schützen. Andererseits ist diese Hülle, die die Schalungselemente von Außen verbirgt, Teil der architektonischen Inszenierung. Die spektakuläre Geometrie der Schalungen und deren faszinierende Holzoberflächen offenbaren sich dem Betrachter erst beim betreten des Gebäudes.
Besonders an diesem Projekt ist aber auch der Bauprozess, bei dem es der Bürgermeisterin Simone Lehnert gelang, in der Gemeinde eine breite Unterstützung des Projekts zu erzeugen und viele ehrenamtliche Helfer und teilweise ehrenamtlich tätige Handwerksbetriebe einzusetzen. Außerdem wurde die ovale Hülle aus Fichtenbrettern und -leisten von mehr als 40 internationalen Masterstudierenden Innenarchitektur (IMIAD) an der HFT Stuttgart (Deutschland, Türkei und Indien) in einem zweiwöchigen Workshop vorgefertigt und montiert.

Mit seinem kreuzförmigem Grundriss, seiner relativ großen Raumhöhe und seiner spitzgewölbeförmigen Decke quasi sakraler Anmutung. Die Verwendung der Schalungen des Stuttgarter Bahnhofs stelle den üblichen Planungsprozess auf den Kopf: Während üblicher Weise zunächst Funktion und Raumprogramm durch den Bauherren bestimmt werden und danach die Umsetzung über Entwurf und Konstruktion die Materialität eines Gebäudes bestimmen, war der Ausgangspunkt der Entwürfe des Forschungsprojekt stets die Wiederverwendung sehr spezieller Schalungselemente.
Die Komposition der 12 Schalungselemente bildet einen Innenraum mit zwei engen Zugängen im Osten und Westen und einem sich weitenden Innenraum, der über große Fenster nach Norden und Süden sowie durch ein indirektes Oberlicht erhellt ist. Die zusätzlichen Maßnahmen der Gebäudehülle bilden Witterungsschutz für Konstruktion und Innenraum und formen außerdem fünf Sitznischen mit elegant geschwungene Holzbänken - drei nach Außen und zwei im Innenraum. Die Zugänge verbergen sich hinter der Lattung der Hülle, so dass von Außen kein direkter Blick in den Innenraum möglich ist. Die Bewegungsführung in den Innenraum ist indirekt und labyrinthisch und sorgt für eine intime Atmosphäre.
Die Taxonomieverordnung der Europäischen Union setzt für den Bausektor zukünftig zwei wesentliche Schwerpunkte: Klimaschutz (Vermeidung oder gar Speicherung von CO2) und Einstieg in eine Kreislaufwirtschaft. In beiden Bereichen kann das Ingersheimer Reallabor einen wesentlichen Diskussionsbeitrag leisten, um die Grenzen des bisher Möglichen und Vorstellbaren zu verschieben. Nicht nur besteht das Gebäude (ohne die Gründung) aus fast 100% biogenem und großenteils wiederverwendetem Material, sondern es zeigt auch neue Wege in der Ökobilanzierung von biogenen Baustoffen wie Holz auf.

Bauherr: Gemeinde Ingersheim, vertreten auch Bürgermeisterin Simone Lehnert

Entwurf: Forschungsprojekt Stuttgart 210; Andreas Kretzer, Stefan Krötsch, Roman Kreuzer, Katharina Raabe, Maximilian Stemmler

Ausführungsplanung und Bauleitung: Klingelhöfer Krötsch Architekten Partnerschaftgesellschaft mbB

Tragwerksplanung: Faltlhauser Krapf Beratende Ingenieurgesellschaft mbH

Holzbau: Koch Holzbau Ingersheim Rohbau Claus Kofink, TPW Bau GmbH

Fassade Studierendenworkshop des Studiengangs IMIAD der HFT Stuttgart

Fotografie: Achim Birnbaum

Planung: Februar bis Juli 2024

Fertigstellung: Oktober 2024